Beitrag für das Buch
"Kritische Erziehungswissenschaft und Bildungsreform", Band 2:
Reformimpulse...,, hg. von Armin Bernhard, Armin Kremer und Falk Rieß (Hohengehren
2002)
Entwicklung eines Konzepts
kritischer Musikerziehung
1. Voraussetzungen, Theorien und Ansprüche
Nach der reinen Lehre des Marxismus gehört Musik (wie auch
Bildende Kunst, Tanz, Theater, Literatur etc.) als konkretisierte Ideologie zum Überbau
der Gesellschaft. Sie ist ein Luxusgut, das sich die Menschen der verschiedenen
gesellschaftlichen Klassen in unterschiedlichem Maße leisten und das sie in
unterschiedlich intensiver, guter und nachhaltiger Weise im eigenen Interessen
weiterentwickeln können. Das bedeutet, dass Musik
- nicht zwingend notwendig ist,
- Klassencharakter besitzt,
- von außermusikalischen (ökonomischen, politischen und
allgemein kulturellen) Faktoren abhängt und
- in einer klassenlosen Gesellschaft obsolet wäre.
Als Ideologie kann Musik eine Form richtigen oder falschen
Bewußtseins sein. Richtig" ist beispielsweise, wenn das Bürgertum im 18.
Jahrhundert dem Adel das Kunstmusik-Privileg entreißt und öffentliche Konzerte selbst
organisiert, richtig" ist auch, wenn Proleten Kampflieder und Straßenmädchen
Gassenhauer (nach Steinitz Volkslieder demokratischen Charakters") anstimmen.
Falsch" ist, wenn die kleinen Leute in Kirchenchorälen Gott lobpreisen,
Arbeitermännerchöre den deutschen Wald besingen oder die Massen sich nach dem Wunsche
Metternichs im Walzertakt zerstreuen anstatt sich zu versammeln".
Im Kapitalismus nimmt Musik Warencharakter an. Mit der
Erfindung der autonomen" Musik durch das Bürgertum im 18. Jahrhundert wurde
aus der Dienstleistung Musik eine Ware. Gebrauchs- und Tauschwert wurden getrennt, mit dem
Tauschwert beschäftigte sich die Ästhetik, die Lehre vom reinen Schönen",
mit dem Gebrauchswert der konkrete Musikbetrieb und das Showbusiness. Dass Musik auch
etwas anderes als Ware sein kann, ist in den meisten musikalischen Weltkulturen
selbstverständlich und war auch unausgesprochenes Geheimwissen der Arbeiterkultur und
anderer musikalisch subversiver Kräfte. Die Täuschung über den Warencharakter von Musik
gehört mit zum wichtigsten Produktionsprozeß von Ideologie im Sinne eines falschen
Bewußtseins.
Nach einer psychologisch weiter entwickelten marxistischen
Theorie wird Musik nicht nur als Ideologie und Ware betrachtet, sondern auch als ein
Produkt menschlicher Tätigkeit. In musikalischer Tätigkeit" findet Aneignung
von Wirklichkeit statt. Auch hier kann es zu bewußten oder unbewußten, selbst- oder
fremdbestimmten, richtigen" oder falschen" Formen von Aneignung
kommen. Die Ästhetik des Produkts Musik" sagt bei dieser marxistischen
Betrachtungsweise nur bedingt etwas über die Qualität der Aneignung aus. Es genügt
nicht, das Produkt Musik" zu untersuchen und zu optimieren, wenn man wissen
will, was richtig oder falsch ist. Der tätige Mensch bzw. der gesamte Aneignungsprozess
muß betrachtet und berücksichtigt werden, wenn man politische oder pädagogische
Entscheidungen treffen will.
Hieraus folgen die Ansprüche der kritischen Musikerziehung
und - allgemeiner - der kritischen ästhetischen Erziehung:
- die Menschen sollen erkennen, dass Musik Ideologie ist,
Klassencharakter hat und eine Form der Aneignung von Wirklichkeit ist,
- die Menschen sollen befähigt werden, ästhetische bzw.
musikalische Fremdbestimmung abzuschütteln und selbstbestimmt ästhetisch bzw.
musikalisch tätig zu sein.
Bezogen auf das Erziehungsfeld Schule bedeutet dies eine
doppelte Aufgabe für den ästhetischen bzw. Musikunterricht:
- die SchülerInnen sollen über das Phänomen Musik in seiner
ganzen Breite nachhaltig aufgeklärt werden,
- die SchülerInnen sollen im Unterricht selbstbestimmt
handeln, sich ihre Lebensrealität ästhetisch bzw. musikalisch aneignen.
Durch diese Ansprüche sind Inhalt, Ziel und Methode des
kritischen ästhetischen bzw. Musikunterrichts bestimmt. Inhalt des Musikunterrichts ist
Musik" in allen Erscheinungsformen, also nicht nur als hohe abendländische
Kunst, sondern als Alltagsgegenstand, als jugendkultureller Sozialisationsfaktor, als
weltweite kulturelle Praxis, als Ritual, als Kommunikation, als Manipulation und als
Waffe. Ziel ist, dass die SchülerInnen befähigt werden, mit Musik aktiv,
selbstbestimmt und bewußt" umzugehen. Und die Methode ist die eines schüler- und
handlungsorientierten Lernens.
2. Diskussionsablauf
Die im vorherigen Abschnitt skizzierten Ansprüche sind nie
in der vorliegenden Klarheit und Kürze formuliert worden. Erst aus der historischen
Distanz und sine ira et studio scheint es (mir) möglich zu sein, die verworrenen und
kontroversen Diskussionen der frühen 70er Jahre auf einen Punkt zu bringen. Von Theodor
W. Adornos Kritik des Musikanten" (zwischen 1952 und 1956 in mehreren Stufen
entwickelt) über Musik als Schulfach" von Helmut Segler und Lars Ulrich
Abraham 1966 bis hin zu Wulf Dieter Lugerts Grundriß einer neuen
Musikdidaktik" 1975 spannt sich der Bogen der Diskussion, die mit folgenden Etappen
und Positionen umschrieben werden kann:
(1) Kritik an der musischen" Nachkriegsform von
Musikunterricht, die die Praxis der nationalsozialistischen Aera bruchlos fortsetzte: am
blinden Absingen von Volksliedern in Grund- und Hauptschule (Volksschule), wo es
Musik" noch nicht als Schulfach und auch keine speziell ausgebildeten
MusiklehrerInnen gab; am Musizieren um seiner selbst willen; an der Trennung von
musikpädagogischer" und authentischer" Musik. Die
musikpädagogische" als gezielt pädagogisch inszenierte Musik etwa im Stile
eines Carl Orff war Hauptangriffspunkt der Adornoschen Aufklärungsbemühungen.
Gegengift war eine professionelle Beschäftigung mit höchst möglicher und avancierter
Kunstmusik, die gemäß Adornos Material-Theorie per se kritisch" ist.
Folgerung: Hören und Analysieren statt Musizieren und Singen unter Anleitung von Profis
von der untersten Klasse an!
(2) Kritik am engen Musik-Begriff, der neben Volksliedern
und musikpädagogischer Musik" nur noch ausgewählte kleine Werke großer
Meister" kennt. Stattdessen soll nach dem Konzept der Auditiven Wahrnehmungserziehung
von Rudolf Frisius jede Art Schall Gegenstand des Musikunterrichts sein, nach Hermann
Rauhe immerhin Kunst- und Popmusik und nach Martin Geck u.a. das gesamte Musikleben
vor Ort" bzw. - wie sich Wulf Dieter Lugert allgemeiner ausdrückt - Musik als
gesellschaftliches Phänomen. Am weitesten ging mit Bezug auf einen neuen Musik-Begriff
das Unterrichtswerk Musik aktuell. Informationen, Dokumente, Aufgaben", das als
pädagogisches Prinzip formuliert hat: jeder hat das Recht darauf informiert zu
werden, um eigene Entscheidungen zu finden und selbständige Verhaltensweisen zu
entwickeln".
(3) Kritik auch am methodisch autoritären"
Verhalten der SchülerInnen gegenüber Musik, sei sie nun abendländisch"
(Mozart) oder außereuropäisch" (indischer Rag oder indonesisches Gamelan)
oder afroamerikanisch" (Jazz). Als Gegenkonzept setzen Getrud Meyer-Denkmann
auf musikalische Gruppenprozesse der Avantgarde oder Lilly Friedemann auf
quasi-therapeutische Improvisation. Das Bauen von Klangerzeugern oder die
polyästhetische Gestaltung" von Festen oder Schulhöfen wird propagiert. Und
Peter Schleuning läßt Kinder Lieder selber machen" und setzt dabei ein
verblüffend antiautoritäres Kreativitätspotential in Gang.
(4) Kritik schließlich an dem niedrigen intellektuellen -
politischen, wissenschaftlichen, kritischen" - Niveau des Unterrichts, der
musikpädagogischen Forschung, der pädagogischen Ausbildung und der praktizierenden
LehrerInnen, die sich als künstlerisch und nicht als politisch verantwortungsvoll
Handelnde verstehen. Diese Art Kritik äußert sich in der ersten musikwissenschaftlichen
Schulbuchanalyse von Freia Hoffmann, in Diskussionen um das Verhältnis von
Musikpädagogik und Musikwissenschaft, in der Gründung einer deutschen
musikpädagogischen Forschung und grundlegender Kritik der Musiklehrerausbildung an den
Musikhochschulen. Strukturell schlägt sich diese Kritik darin nieder, dass seit 1974 auch
Fach-MusiklehrerInnen für Grund-, Haupt- und Realschule ausgebildet werden, dass in den
Rahmenrichtlinien aller Länder das Fach Musik" an der Oberstufe
wissenschaftspropädeutisch" konzipiert wird und dass es Musiklehrerausbildung
auch an einigen Universitäten und nicht nur an Musikhochschulen gibt. Diskutiert werden
diese Tendenzen unter dem Stichwort Musik an der Gesamtschule".
3. Realisierung: exemplarische Leitideen und
Projekte der 70er Jahre
Die im vorigen Abschnitt aufgezählten Kritikpunkte führten
in den 70er Jahren zu zahlreichen Reformprojekten". Jedes Projekt greift meist
alle vier der genannten Kritikpunkte auf, läßt es aber nicht bei der Kritik bewenden,
sondern fasst dieselbe positiv" und konstruktiv. Dabei hat jedes Projekt eine
oder mehrere Leitideen oder leitende Prinzipien, die so etwas wie Lösungsformeln für die
kritisierten Probleme darstellen. Im folgenden nenne ich etwas schematisiert und
vereinfacht:
Übersicht über die Modelle
- "Kultur für
alle": Hilmar Hoffmanns Frankfurter Modell (seit
1970).
- "Leben mit der
Aisthesis": Bielefelder Schulprojekte Hartmut von Hentigs
(eröffnet 1974).
- "Kommunikation/Ästhetik": Musiklehrerausbildung Oldenburg (Gründung
1973).
- "Ästhetische
Gestaltung der Lebenswelt": Modellversuch Kollegschule
Nordrhein-Westfalen (Planungsbeginn 1972).
- "Musik als aktive
Aneignung": Arbeitskreis Demokratischer Musiker ADM
(1974-1985).
- "Popmusizieren im
Klassenverband": Institut für Didaktik Populärer Musik
Lüneburg (gegründet 1980).
"Kultur für
alle"
Prototypisch für den sozialdemokratischen Versuch, den
Klassencharakter von Kultur und Musik aufzuheben" ist Hilmar Hoffmanns Konzept
Kultur für alle", das Hoffmann seit 1970 als Frankfurter Kulturdezernent zu
praktizieren versucht. Wie der Name sagt soll Kultur, die Hoffmann als sinnvollen
Konsum gesellschaftlichen Reichtums" (S. 12) bezeichnet, den bürgerlichen Eliten
entrissen und auf die Strasse gebracht, demokratisiert" werden. Das Schlimme am
Klassencharakter von Musik ist demzufolge, dass die gute Musik" nicht den
Massen gehört, dass die Opernhäuser und Konzertsäle zwar von allen subventioniert, vom
Bildungsbürgertum aber besetzt werden. Klassencharakter ist kein Kennzeichen der Inhalte
von Musik, sondern nur eines der Eigentumsverhältnisse.
Dieser (allgemeine) Standpunkt hat vor allem im Kontext der
Gesamtschul-Diskussion dazu geführt, dass es als Fortschritt betrachtet wurde, wenn
Beethoven vor Grund-, Haupt-, Real- und GymnasialschülerInnen gleichermaßen erklang.
Sehr zum Leidwesen der Betroffenen, die mit derart Demokratie wenig anfangen konnten.
Schnell wurde - auch Hoffmann - klar, dass Kultur für alle" auch eine
Änderung der Inhalte erfordert. So wurde seine Forderung beispielsweise an einigen
Hamburger Gesamtschulen derart umgesetzt, dass der Musikbereich der Schulgebäude
großzügig mit bis zu 10 Flügeln ausgestattet wurde und man es daraufhin der Interaktion
von LehrerIn und SchülerIn überließ, was auf diesen Flügeln gespielt wurde. Die
modifizierte These lautete: Gebt allen die gleichen materiallen Chancen und es wird schon
gut gehen.
Diese These lag auch dem Versuch zugrunde, an einigen
Universitäten ein professionelles Musiklehrerstudium ohne Aufnahmeprüfung zu etablieren.
Da an Musikhochschulen das Ritual der Aufnahmeprüfung nicht nur für die künstlerischen,
sondern auch für die künstlerisch-wissenschaftlichen" (sprich
pädagogischen") Studiengänge praktiziert wurde, war es ein provokanter
Entritualisierungsakt, wenn an den Universitäten zunächst keine solchen
Aufnahmeprüfungen durchgeführt wurden. Es war nun möglich, ein Musikstudium zu
beginnen, ohne zuvor Investitionen in 8 Jahre privaten Instrumentalunterrichts getätigt
zu haben.
Leben
mit der Aisthesis"
1968 veröffentlichte Hartmut von Hentig unter dem Titel
Systemzwang und Selbstbestimmung" die theoretischen Grundlagen für die 1974 in
Bielefeld eröffneten Schulprojekte. Das Schulfach Musik" gibt es in Hentigs
Gesamtschule nicht, wohl aber das Lernziel Leben mit der Aisthesis", zu dessen
Erreichen Musik-Profis beitragen sollen. Im Bielefelder Oberstufen-Kolleg ist dieser
Ansatz dahingehend verwirklicht worden, dass die vier MusiklehrerInnen 66% ihrer
Unterrichtszeit im Projekt- und Ergänzungsunterricht interdisziplinär arbeiten mußten.
Der Wahlfachunterricht Musik" (34%) war berufsvorbereitend und nur für circa
5% der KollegiatInnen eingerichtet.
Hentig fordert einen Unterricht, in dem die Fähigkeit,
die eigene Umwelt wahrzunehmen und zu gestalten, zu kritisieren und zu
verändern" gelehrt wird, der ein Verständnis der gesellschaftlichen
Bedingungen und Wirkungen ästhetischer Phänomene" fördert und bei den
SchülerInnen eine Ich-Stärkung durch Sensibilisierung der Perzeption" (S. 93)
bewirkt. An die Adresse der hohen Kunst" gerichtet sagt Hentig, dass die
SchülerInnen lernen sollten, die Kunst von ihren Wirkungen her aufzunehmen, nicht
von ihrem historischen Wert oder ihren theoretischen Absichten" (S. 95).
Hentigs Leben mit der Aisthesis" hat sich als ein
Reservoire zur Selbstbedienung erwiesen. So konnte die Auditive
Wahrnehmungserziehung", die eine Sensibilisierung der auditiven Perzeption fördern
wollte, sich auf einen Teil des Hentigschen Konzepts berufen. Auch Hermann Rauhes
frühe Popmusik-Didaktik, in der eine Ich-Stärkung gegenüber der Musikindustrie erreicht
werden sollte, konnte Hentig zitieren. Hentigs Konzept ist aber auch eine Ermutigung zu
Interdisziplinarität und Projektunterricht. Zahlreiche Ganztagsschulen haben die Idee
für den Wahlbereich, das Freizeitangebot und ihren Projektunterricht übernommen. In den
klassischen" Klassenzimmer-Unterricht ist Hentigs Gesamtkonzept aber kaum
eingedrungen und bis heute eine Forderung musikpädagogischer Sonntagsreden geblieben. So
pflegen MusiklehrerInnen immer dann, wenn eine Thematik die Musikimmanenz überschreitet,
zu fragen: Was hat das mit Musik zu tun?" Doch, da Musik im wirklichen Leben
nie alleine vorkommt, kann Hentigs Antwort mit Hanns Eisler nur lauten: Wer nur von
Musik etwas versteht, versteht auch von Musik nichts".
Kommunikation/Ästhetik"
Während die beiden bisher skizzierten Projekte vor allem
eine Erweiterung des Musik-Begriffs und eine starke Politisierung" der Inhalte
zur Folge hatten, ist der Ansatz von Kommunikation/Ästhetik" gegenüber der
marxistischen Tätigkeitstheorie anfällig. Ziele, Inhalte und Methoden der Musikerziehung
werden hier nicht mehr vom Gegenstand Musik, sondern von der Tätigkeit, die mittels Musik
ausgeübt wird, definiert. Dabei steht, allen technokratischen Auswüchsen zum Trotz, beim
Kommunikations-Konzept der handelnde Mensch und nicht der gehandelte Gegenstand im Zentrum
der Erziehung. Schüler- und Handlungsorientierung sind im Konzept zwingend impliziert,
während sie bei allen anderen kritischen" Ansätzen nur eine von vielen
Vermittlungsmethoden sind.
Kommunikation/Ästhetik" bedeutet, dass Musik als
eine spezifische Form von Kommunikation betrachtet wird. Das von Oldenburg aus durch eine
Arbeitsgruppe um Ulrich Günther in ein monströses Schulbuchprojekt umgesetzte Konzept
der Auditiven Wahrnehmungserziehung" geht ebenso von Musik als Kommunikation
aus wie die in Hamburg von Herrmann Rauhe, Hans-Peter Reinecke und Wilfried Ribke (rein
theoretisch) formulierte Theorie und Praxis handlungsorientierten
Musikunterrichts". Das Fach Musik an der Universität Oldenburg wurde programmatisch
Musik/Auditive Kommunikation" und der einschlägige Fachbereich mit den Fächer
Kunst, Musik, Germanistik und Sprachen Kommunikation/Ästhetik" benannt. Die
Musiklehrerausbildung in Oldenburg wurde nach einem Ansatz musikalischer Kommunikation
strukturiert und daher von Anfang an die musikalische Vermittlung durch technische Medien
gleichberechtigt neben der herkömmlichen durch Musikinstrumente und Gesang gelehrt. Seit
1978 erweiterte ein mehrjähriges interdisziplinäres Projekt zur kommunikativen
Tätigkeit" den Ansatz, der stets der Gefahr ausgesetzt war,
technokratisch" zu werden.
Obgleich das Oldenburger Modell" formal gesehen
eher technokratisch und an den kybernetischen Trend" der Zeit angepasst war,
haben die Musikhochschulen in diesem Modell mit sicherem Gespür die Kritik erkannt, die
sich an ihre Adresse richtete. In der seinerzeit marktbeherrschenden musikpädagogischen
Zeitschrift Musik und Bildung" wurde der Widerlegung" des
Oldenburger Modells ein ganzes Themenheft gewidmet. Und der Präsident der Musikhochschule
Hannover und Vorsitzende des Deutschen Musikrates, der noch 1973 zusammen mit Ulrich
Günther das Gründungsgutachten für Oldenburg formuliert hatte, erklärte offen, dass er
alles ihm Mögliche daran setzen werde, dass die Musiklehrerausbildung in Oldenburg wieder
geschlossen werde. Wie von selbst" hatte der Kommunikationsansatz alle
kritischen Aspekte der herkömmlichen Musikerziehung berührt: den Musikbegriff (inclusive
der Aufwertung von Popularmusik), den Kunstbegriff (inclusive der Abwertung
künstlerischen Instrumentalspiels und des Gesangs), den Vermittlungsbegriff (inclusive
der Diffamierung der Rolle von MusiklehrerInnen als KünstlerInnen) und den Begriff von
Wissenschaftlichkeit des Lehrerqualifikation.
Ästhetische
Gestaltung der Lebenswelt"
Die nordrhein-westfälische Kollegstufe war als konsequente
Selkundarstufe II geplant. Neben der gymnasialen Oberstufe sollte das gesamte
berufsbildende Schulwesen in einem flexiblen System vereinigt sein. Das Fach Musik war
gefragt, ein Profil zu entwickeln, das auf Fachoberstufen-Niveau" berufsbezogen
war. Dieser äußere Zwang hatte eine Fülle reformerischer Konzepte zur Folge, die tief
ins Mark des herkömmlichen Verständnisses von Musikerziehung vorstießen. Es wurde ein
Schwerpunkt Kunst/Musik/Gestaltung" geschaffen und Musik zudem in den
Schwerpunkt Erziehung und Soziales" einbezogen. Das neue Musikcurriculum wurde
aus neuartigen Berufsfeldern abgeleitet, an deren Spitze sich ein
Musiziergruppenleiter" befand.
Das Besondere der Kollegschule war, dass die ästhetischen
Fächer auf eine ästhetische Berufspraxis ausgerichtet sein sollten, die sich jenseits
der herkömmlichen künstlerischen Berufe befand und für die Kunst-Musikhochschulen den
Ruch des Laienhaften, Unprofessionellen hatte. Gegenüber den Ausbildungsgängen für
herkömmliche handwerkliche oder vor-künstlerische Berufe wie Instrumentenbauer oder
Musiktherapeut waren die Studien der Kollegschule enorm aufgewertet und
verwissenschaftlicht". Explizit anerkannt wurde durch diesen Modellversuch,
dass Musik eine Möglichkeit ästhetischer Lebenspraxis" ist und es für die
ästhetische Gestaltung der Lebenswelt auch Profis geben kann und soll.
Musik
als aktive Aneignung"
1973 bildete sich aus den TeilnehmerInnen der Jahrestagung
des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt eine Projektgruppe, die eine
stärkere Politisierung" des Institus und mehr Mitbestimmung der
TeilnehmerInnen forderte. Diese Gruppe veranstaltete im Jahr darauf einen
Gegenkongress" und formierte sich dann als eigenständiger Arbeitskreis
demokratischer Musik" (ADM). Nach einer weiteren Trennung von der Gruppe um die
Zeitschrift Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft" führte
dieser Arbeitskreis regelmäßig Tagungen durch und organisierte sich nach dem
Basisgruppen-Konzept in kleinen lokalen MusiklehrerInnenzirkeln. Dort wurden
Unterrichtsreihen entwickelt und erprobt, die ab 1977 publiziert wurden und bis 1985 ein
verzweigtes Vertriebsnetz bedienten.
Inhaltlich bezog sich der ADM einerseits auf musikpolitische
Tagesereignisse wie Musik im Kampf gegen Kernkraftwerke oder Musik gegen Imperialismus
(z.B. in der Chile-Solidarität) sowie auf musikalische Friedenserziehung oder politische
Aspekte von Popmusik. Grundlage jeder publizierten Unterrichtseinheit war die
Überzeugung, dass Musik als aktive Aneignung von Wirklichkeit" ein
pädagogisch verantwortbares und tragfähiges Konzept sei. So wurden 1977 Blues und
Shanties, später Cowboy-Lieder und Bänkelgesänge als Lieder dargestellt, durch die
Arbeit organisiert, Streß verarbeitet, die Lebenskraft regenriert und die Verhältnisse
kritisch betrachtet werden. Alle Einheiten enthielten ausführliches Material zum
Hintergrund" oftmals bekannter Lieder und Hinweise auf szenische
Interpretationen der Lieder. Der ADM griff weitgehend modische" Themen und
Musikgattungen auf und zeigte, dass und wie diese soziale Wirklichkeit widerspiegeln. Eine
Einheit über Reggae, über die Musik Chiles und Krieg und Frieden wurden zum Programm.
Der ADM praktizierte ein klassisches Basiskonzept. Aufgrund
der Tatsache, dass die meisten aktiven Mitglieder aber den Gang durch die Institutionen
erfolgreich angetreten hatten, war dieser musikpädagogischen Basisgruppe" ein
ziemlich großer Einfluss vergönnt. Die grauen Materialien verkauften sich in sehr hoher
Stückzahl und erschienen bereits 1979 als Raubdruck" in Schulbüchern
etablierter Verlage (Klett mit banjo", Metzler mit Musik hören machen
verstehen").
Popmusizieren
im Klassenverband"
Die größte Sprengkraft im reformpädagogischen Kampf um
den Musikunterricht hatte lange Zeit neben der Frage nach Nutzung neuer Musiktechnologien
die Frage, ob und wie Popmusik pädagogisiert werden sollte. Einer kritischen
Phase", in der man hoffte, die SchülerInnen vor der musikindustriellen
Fremdbestimmung immunisieren zu können, folgte ein Phase, in der versucht wurde, der
Popmusik positive Aspekte abzugewinnen: die kommerzielle" der
authentischen" gegenüber zu stellen. Der oben erwähnte ADM praktizierte dies
Prinzip seit seiner ersten Unterrichtseinheit zu RocknRoll 1977. Wulf Dieter
Lugert formulierte 1975 diesen Ansatz: Das Musikbewußtsein des Jugendlichen ist
zunächst positiv zu bewerten, auch wenn Musik für ihn nur zerstreuende und unterhaltende
Funktion hat. Er sollte jedocch erfahren, daß Musik auch andere Funktionen wahnehmen
kann, die für ihn ebenso lustvoll sein können. Die Einführung in diese Funktionen
obliegt der Musikerziehung" (Lugert 1975, S. 49). Zum zentralen Aspekt dieser
lustvoll wahrzunehmenden anderen Funktionen gehört, dass die Jugendlichen Musik
möglichst selbst machen - nachspielen, umgestalten, weiter entwickeln, multimedial
ausbauen, verfremden... kurzum: sich aneignen!
Das konkrete Konzept, mit dessen Hilfe eine ganze
Schulklasse sich Popmusik praktisch aneignen kann, entwickelte Volker Schütz 1981 in der
Zeitschrift Musik und Bildung" ausgehend von seiner in Oldenburg geschriebenen
Dissertation. Im selben Jahr wurde das Institut für Didaktik der Populären
Musik" in Lüneburg gegründet und gab im Februar die erste (nullte) Nummer der
Zeitschrift Populäre Musik im Unterricht" heraus. Die Popmusikdidaktik des
Instituts, das Wulf Dieter Lugert und Volker Schütz leiteten, wurde zum Meilenstein eines
Prozesses der Anerkennung und Integration zentraler Ansprüche kritischer Musikerziehung
der 70er Jahre. Hiervon ist im folgenden die Rede.
4. Integration und Isolierung
Die im vorigen Abschnitt exemplarisch genannten Projekte
oder Modellversuche hatten zu einem großen Teil Bestand, auch wenn sie nur teilweise
verallgemeinert" werden konnten:
Hilmar Hoffmanns Kultur für alle" schlug sich
nicht nur in touristisch attraktiven, kostenlosen Konzertzyklen wie dem Oldenburger
Kultursommer, sondern auch in der Tatsache nieder, dass auf dem Papier das Fach
Musik" Einzug in die Stundentafeln aller Schularten hielt. Die Wirklichkeit
sieht allerdings anders aus. In einem Memorandum zur Situation an Grund- und Sonderschulen
stellt der Fachverband Verband Deutscher Schulmusiker" vds 1999 fest, dass an
deutschen Grundschulen Musik überwiegend fachfremd" unterrichtet wird und es
an Sonderschulen so gut wie gar keine Musiklehrer gibt". Eine Landtagsanfrage
vom 6.4.2000 in Hannover ergab, dass einem Einstellungsbedraf von 250 Grund-, Haupt-
und RealschulmusiklehrerInnen bzw. 60 GymnasialmusiklehrerInnen" im Jahr 1999 eine
Aufnahmequote von 132 bzw. 45 gegenüberstand.
Das Leben mit der Aisthesis" existiert am
Bielefelder Oberstufen-Kolleg unvermindert, wenn auch durch Abitur zerschnitten und in
Fachschranken verwiesen. Eine Übertragung des Oberstufen-Modells der Hentigschen
Schulprojekte hat es aber nie gegeben. Interdisziplinarität ist an Normal-Schulen in
Projekttagen gefragt und entsprechend ghettoisiert. Dennoch erscheint gerade Hentigs
Konzept das für die aktuelle Diskussion interessanteste zu sein (siehe unten Abschnitt5).
Die Oldenburger Konzeption der Musiklehrerausbildung
Kommunikation/Ästhetik" ist noch weitgehend erhalten, während der
Modellversuch der nordrhein-westfälischen Kollegschule Ästhetische Gestaltung der
Lebenswelt" nie realisiert worden ist. Allerdings sind vor allem an Fachhochschulen
ästhetisch gestaltende Studiegänge in den 90er Jahren verstärkt gegründet worden
(Produkdesign, Industriedesign, Sounddesign etc.).
Der Arbeitskreis Demokratischer Musiker ADM hat sich 1985
aufgelöst, weil das Konzept der Musik als aktive Aneignung" inzwischen in der
musikpädagogischen Szene weitgehend zum Allgemeingut geworden und von Unterrichtswerken
aller Art aufgegriffen worden ist. Als szenische Interpretation" oder im
darstellenden Spiel" - einem in den 90er Jahren neben Kunst und Musik neu
hinzugekommenen Schulfach - leben viele ADM-Konzepte heute ebenso fort wie in dem Boom,
den Musiktheateraufführungen im AG-Bereich der Schulen derzeit erleben. Freilich darf
nicht übersehen werden, dass es immer wieder (vor allem in Süddeutschland) Versuche
gibt, einen Kanon von Pflichtliedern" festzuschreiben. Dieser Kanon richtet
sich inhaltlich nicht nach den Kriterien, die das Konzept der Musik als aktive
Aneignung" vertreten hat. Glücklicherweise jedoch konnte sich das
Pflichtliedersingen nicht durchsetzen. Den Klagen von PolitikerInnen, die Kinder könnten
heute keine Lieder mehr, stehen die Ergebnisse empirischer Untersuchungen über ein
großes Singe-Repertoire von Kindern und hohe Auflagen von Liedersammlungen wie
Student für Europa" gegenüber, die alles enthalten, was auf Schulhöfen und
Spielplätzen in ist.
Das Popmusizieren im Klassenverband" gehört seit
Gründung des Instituts für Didaktik Populärer Musik (1980) mit der Erweiterung auf
afrikanisches Trommeln, Sambatanzen, internationale Folklore und Kinderspiele zum meist
gefragten Inventar von Lehrerfortbildungen, grauen und grünen Unterrichtsmaterialien. Die
Zeitschrift des Instituts hat inzwischen eine Auflage von 7000 und damit sämtliche
übrigen musikpädagogischen deutschsprachigen Zeitschriften um mehr als 250% überholt.
Die große Nachfrage ist eine Folge der Trägheit der Musiklehrerausbildungsinstitutionen
sowie des grandiosen Erfolgs, den diese oft als neo-musische Welle beargwöhnte Tendenz
aufweisen kann. Inzwischen hat sich gezeigt, dass das reformerische Potential, das in der
Forderung Popmusik in die Schule" beschlossen war, erfolgreich absorbiert
worden ist.
Die Forderung Popmusik an die Schule" war Ende
der 60er Jahre unter einem kritisch-aufklärerischen Vorzeichen formuliert worden.
Dasselbe galt für Themenmbereiche wie Musik in der Werbung, Filmmusik, Musik in der
Disco, Musik im Kaufhaus und am Arbeitsplatz, Musik im Radio und Fernsehen usw. Parallel
zur Forderung der 80er Jahre, dass die angesagte Jugendmusik nicht (theoretisch)
analysiert und hinterfragt, sondern zuerst einmal aktiv gespielt, sodann verändert und
weiter entwickelt werden sollte, verschwand die kritisch-theoretische Aufklärungstendenz
der Popmusik-Didaktik. Die Freude am Selber Machen" und Selber
Können" gilt als eine nachhaltigere Ich-Stärkung" gegenüber den
manipulativen Kräften der Musikindustrie als Aufklärung über Verkaufsziffern,
Vermarktung und Kommerzialisierung.
Bei diesem Prozess ging eine zentrale Komponente kritischer
Musikpädagogik der 70er Jahre verloren: der wissenschaftliche Anspruch an die
Lehrerqualifikation und der wissenschaftspropädeutische Anspruch an den
Oberstufenunterricht. Zwischen SchülerInnen und LehrerInnen besteht heute weitgehend der
Konsens, dass man Musik in der Schule nicht zerreden" soll. Information ja,
Kritik und Analyse nein! Es wird heute an Konzepten gearbeitet, die zwar auf Kritik und
Analyse aufbauen, Kritik und Analyse aber nicht im Unterricht explizit formulieren,
sondern SchülerInnen durch geeignetes Handeln zu konstruktiv-kritischen Einsichten kommen
lassen.
In den Jahren 1982-83 fand in Hannover eine intensive
Auseinandersetzung um die niedersächsische Musiklehrerausbildung statt. In insgesamt 30
Sitzung der Gruppe Musik/Theater der Studienreformkommission standen sich die
Musikhochschule Hannover und die Modellversuche Osnabrück und Oldenburg sowie die
Universitäten Hildesheim, Lüneburg und Göttingen einander gegenüber. Obgleich die
Musiklehrerausbildung einer Musikhochschule sich stets an den künstlerischen
Ausbildungsbetrieb anlehnen" muss und daher das Umfeld der abendländischen
Kunstmusik nur unter größten Schwierigkeiten verlassen kann, wurde über einige
reformpädagogische Positionen Einigkleit zwischen allen Beteiligten erzielt:
Wie der Musikunterricht, so hat auch die
Musiklehrerausbildung von einem möglichst weiten Musikbegriff auszugehen, hat neben der
Kunst- auch die Popularmusik und die Musik der Wel" zu berücksichtigen. Sie
darf auch nicht ignorieren, wie und wo Jugendliche heute Musik begegnen: im Kaufhaus und
in der Werbung, als Filmmusik und im Fernsehen, in Rockkonzerten und der Diskothek, am
Plattenspieler und Computer. Vor diesem Hintergrund wurde als Ziel formuliert, dass die
SchülerInnen befähigt werden sollten, mit Musik (1) aktiv, (2) selbstbestimmt und (3)
bewußt umzugehen. Diesen Zielen lag die Vorstellung zugrunde, dass im jugendkulturellen
Alltag der Umgang mit Musik passiv, fremdbestimmt und unbewußt (manipuliert) ist oder
sein kann. Inzwischen werden die drei genannten Typen des Umgangs mit Musik meist ergänzt
durch eine vierte Dimension: der (möglichst) unvoreingenommenen bzw.
tolerant-interessierte Umgang mit Fremdem.
Dieser gemeinsame Nenner der musikpädagogischenm Diskussion
zu Beginn der 80er Jahre schlug sich in den Rahmenrichtlinien und den Prüfungsordnungen
für die Musikstudiengänge der Ausbildungsstätten nieder. In ihrer Konkretisierung
fällt auf, dass die Formulierungen sehr offen und vieldeutig sind. Das aktive"
Musizieren kann auch als musisches Konzept, wie es bereits Adorno kritisiert hatte,
verstanden werden. In der Musikausbildung kann aktiv" den hohen Stellenwert der
künstlerischen Instrumentalausbildung legitimieren. Die Forderung des selbstbestimmten
Umgangs mit Musik öffnet missionarischen Strategien der MusiklehrerInnen Tor und Tür. Da
kaum zu übersehen ist, dass die musikindustrielle Produktion von Musik
kommerziell" ist und so gut wie alle Jugendlichen scheinbar mit den
kommerziellen Interessen der Musikindustrie konform gehen, erscheint es durchaus legitim
Selbstbestimmung mit nicht-kommerzieller Musik in Verbindung zu bringen. Obgleich meist
unter dem bewußten" Umgang die aus der kritischen Musikerziehung abgleitete
Reflexion auf die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen - aos den
Ideologie-Charakter - von Musik verstanden worden war, kann ein Musikunterricht, in dem
Noten gelehrt, Musikanalyse betrieben und abfragbares Musiktheoriewissen exreziert wird,
ebenfalls unter diese Rubrik subsumiert werden. Selbst das Ziel der Unvoreingenommenheit
oder Toleranz gegenüber Fremdem wurden von dem eigentlichen Gegenstand der Musik
der Welt" auf die bei Jugendlichen meist unebliebte klassische abendländische Musik
umgelenkt.
Kurz gesagt, die auf dem Hintergrund der Diskussion um
kritische Musikerziehung formulierten Ziele sind deutungsoffen und können relativ leicht
in das bestehende und ursprünglich kriisierte System integriert werden. Und in der Tat
ist dies in Niedersachsen in hohem Maß geschehen und es gibt keine Anzeichen, dass dies
anderswo anders ist. Die Musikhochschulen mit ihrem zentralen Auftrag, den
klassischen" künstlerischen Nachwuchs der Bundesrepublik zu reproduzieren und
über die Versorgung eines hohen Anteils ausländischer MusikstudentInnen das Ansehen der
Republik als Stätte der Musen zu wahren, erweisen sich gegenüber kritischen und
reformerischen Konzepten als enorm absorptionsfähig. Sie haben ein großes
Verharrungsvermögen, da die Musiklehrerausbildung nur einen kleinen und dabei einen in
der Prestigeskala niedrigen Stellenwert hat.
Der Integration kritischer Positionen aus den 70er Jahren
steht die Isolierung derjenigen Institutionen gegenüber, die kritische Positionen weiter
entwickelt haben. Dabei gehen die konservativen Positionen der meisten Musikhochschulen
ein Zweckbündnis mit modernen Positionen ein, für die Musik weder Ideologie noch Ware,
weder Kunst noch Wert, sondern Gehirnaktivität, Medikament, Sozialintegrator und Mediator
ist. Wenn beispielsweise in einem Berliner Großversuch festgestellt wurde, dass
Schulklassen, die nachmittags verstärkt Musikunterricht hatten, ein besseres
Sozialverhalten aufweisen als Schulklassen, die nachmittags nicht in der Schule sind, dann
wird hier von wissenschaftlichen Beweisen für die Notwendigkeit von Musikerziehung
gesprochen. Das musikpädagogische Konzept der sozialen Musterklassen spielt hierbei keine
Rolle und kann sich mit dem bereits von Adorno kritisierten Orff begnügen. Noch grotesker
ist der sogenannte Mozart-Effekt". In den USA ist in Laborversuchen mit
StudentInnen festgestellt worden, dass eine bestimmte Mozart-Klaviersonate die
Kreativität" der ProbandInnen nachweisbar gefördert hat. Nun schwärmen in
Deutschland bereits musikpädagogische Professoren davon, dass der Wunsch vieler Menschen,
etwas von der Kreativität Mozarts abzubekommen, in Erfüllung gehen könne.
Zahlreiche musikpädagogische Forschungsprojekte sind in den
letzten Jahren durchgeführt worden, in denen der Transfereffekt" von Musik
nachgewiesen werden sollte. Diese Art Forschung läuft zwar dem Wesen jenes Musikbegriffs
entgegen, der die Basis der künstlerischen Aktivitäten einer jeden deutschen
Musikhochschule darstellt. Dennoch geht diese Forschung ein Zweckbündnis mit jenen
Positionen ein, die die kritische Musikerziehung der 70er Jahre angegriffen hat.
Erzkonservativ spießige, bürgerliche Musikvorstellungen reichen lächerlich
mechanistischen Wirkungsvorstellungen die Hand. Das Argumentationsniveau ist das
mittelalterlich-klerikaler Musik-Wirkungstheorien.
Angesichts dieses Zweckbündnisses können die ehemaligen
kritischen Positionen als veraltet" und konservativ" verlacht
werden. Man wähnt sie als im offiziellen Diskurs weitgehend vereinsamt und isoliert.
5. Die aktuelle Situation
Nachdem fast alle Positionen der kritischen Musikerziehung
integriert und isoliert worden sind, scheint es, als ob ein Kapitel Bildungsreform als
abgeschlossen gelten kann. Dem ist aber nicht so. Denn da gibt es noch die Schule, in der
das wilde Leben tobt. Da gibt es noch die SchülerInnen, die präzise und skrupellos ihre
Bedürfnisse artikulieren. Und diese Tatsache hat in den letzten Jahren zu einem Zustand
geführt, den führende Musikpädagogen und Musikpädagogik-Zeitschriften als
Krise" bezeichnen. Diese Krise" wird wie folgt beschrieben:
Popularmusik als Unterrichtsgegenstand ist ebenso
unumstritten wie der Einsatz neuer Musiktechnologien. Nur, noch immer sind die
MusiklehrerInnen erst zu einem verschwindend kleinen Teil entsprechend ausgebildet.
Fortbildungen werden zwar vielfach angeboten, doch wird von offizieller Seite Fortbildung
als Privat- und nicht als Dienstgeschäft betrachtet. Die meisten Hochschulen tun sich
immer noch sehr schwer, Popmusik (oder gar die Musik der Welt") so in ihr
Curriculum aufzunehmen, dass dabei von einer Lehrerqualifikation gesprochen werden
könnte.
Wo immer das Fach Musik nicht fest in den Stundentafeln
verankert ist sondern nur wahlweise angeboten wird, wird es von den SchülerInnen radikal
abgewählt. Auch wenn es heute kaum mehr Musikzensuren aufgrund von Vorsingen gibt, so ist
doch den meisten SchülerInnen der Zusammenhang zwischen dem Schulfach Musik und der
wirklichen" Musik vollkommen unklar. Nach wie vor lehnen viele SchülerInnen
Musik mit dem Klischee Noten igit igit!" ab.
PolitikerInnen, Eltern und Schulleitungen fordern vom
Musikunterricht mehr als die MusiklehrerInnen leisten können. Musik" soll
sozial beschwichtigen, ein Gegengewicht zum Medienkonsum bilden, Musik soll
interkulturelle Brücken schlagen, Musik soll PR für das Schulleben nach außen machen,
Musik soll möglichst wenig kosten und bloß nicht laut sein. Die Folge dieses hohen
Anspruchs ist, dass viele MusikjlehrerInnen sich weigern, das Fach Musik zu unterrichten,
sich in ihr zweites Schulfach und in musische Nachmittags-AGs flüchten.
Trotz großer Sonntagsreden wird gleichzeitig dem
Musikunterricht das Korsett Stundentafel" immer enger gezogen. Das Fach Musik
ist das erste, das gestrichen wird, wenn es Wichtigeres zu unterrichten gibt. Das sehen
die PolitikerInnen übrigend überwiegend genauso wie die SchülerInnen, deren Freizeit so
voller Musik ist, dass die Schule nicht hinterher kommt.
Der aktuellen Musikpädagogik fällt angesichts dieser
Krise" nichts ein. Wenn sie sich in die Legitimation durch Transfereffekte
begibt, so gibt sie sich selbst auf. Macht 1 Stunde Musikunterricht pro Woche intelligent,
warum nicht eine Zusatzstunde Mathematik? Wenn sie sich auf ihren sozial integrativen oder
allgemein bildenden Leistungen beruft, so muß sie gleichzeitig Angst haben beim Wort
genommen zu werden. Doch welche MusiklehrerIn ist therapeutisch oder sozialpädagogisch
bewandert? Wenn sie sich aber auf die Musik selbst, ihren immanenten Anspruch, ihr
Wertesystem und ihre schlichte Faszination für die an einer Musikhochschule ausgebildete
und schon als Kind und Jugendliche für ein Musikhochschulstudium sozialisierte LehrerIn
zurückzieht, dann verweigern sich die SchülerInnen. Warum sollte in einer Welt voller
Musik Musik" auch noch unterrichtet werden für alle, die später keine Musiker
werden wollen?
Die 1966 von Helmut Segler und Lars Ulrich Abraham gestellte
Frage und Forderung Musik als Schulfach" stellt sich heute erneut. Man sollte
allerdings differenzieren: Musik an der Schule" impliziert nicht zwingend den
Status von Musik als Schulfach. Theoretisch denkbar wäre, Musik an der allgemeinbildenden
Schule außerhalb der Schranken und Regeln eines Unterrichtsfaches mit den Koordinaten
45-Minuten-Takt, Klassenzimmer, Zensurengebung etc. fest zu verankern, zu intensivieren,
dabei alle in den Sonntagsreden von PolitikerInnen geäußerten Ziele zu verfolgen und
dazu auch noch glücklich zu werden. Das Leben mit der Aisthesis" könnte so
ebenso praktiziert werden wie die Erfahrung, dass sich mit Musik Schulwirklichkeit aktiv
ästhetisch aneignen läßt. Popmusizieren wäre sinnvoller als im Klassenverband und
einer Kultur für alle" stünde nichts im Wege. Musik-Profis wären zur
Inszenierung all dieser Aktivitäten zwingend notwendig, allerdings keine an
Musikhochschulen ausgebildeten MusiklehrerInnen. Es scheint, dass heute unter ganz neuen
Vorzeichen die alten kritischen Reformpositionen wieder gefragt sein könnten. Noch
niemand hat sie meines Wissens entdeckt und reaktiviert. Doch die Zeit wird kommen, wenn
Musik (und ästhetische Tätigkeit insgesamt) nicht aus den Schulen ganz verschwinden. Und
das will niemand.
Fussnoten:
- Steinitz, Wolfgang: Deutsche Volkslieder demokratischen
Charakters aus sechs Jahrhunderten. 2 Bände. Akademie-Verlag Berlin. Erstauflage
1955-1962. Das Buch wurde in diversen Nachdrucken zu einer "Bibel" der
westdeutschen Musik-Linken.
- Zitiert nach: Czerny, Peter und Hofmann, Heinz P.: Der
Schlager. Ein Panorama der leichten Muse. Band I. VEB Lied der Zeit Berlin 1968, S. 28.
- Stroh, Wolfgang Martin: Leben Ja. Zur Psychologie
musikalischer Tätigkeit. Marohl-Verlag Stuttgart 1984. Wieder erhältlich unter
www.lugert-verlag.de/ ...
- Vgl. Lugert, Wulf Dieter: Grundriß einer neuen
Musikdidaktik. Metzler Verlag Stuttgart 1975. Insbesondere S. 60-62.
- Empfehlungen der Studienreformkommission Niedersachsen,
Arbeitsgruppe Theater/Musik. MWK Hannover 1982.
- Adorno, Theodor W.: Dissonanzen. Musik in der verwalteten
Welt. Vandenhoeck & Ruprecht 1956. Kapitel 3.
- Frisius, Rudolf: Musikunterricht als auditive
Wahrnehmungserziehung - Fachwissenschaftliche Grundlagen. In: Musik und Bildung 1/1973, S.
1-5. Zusammenfassend zum gesamten Konzept: Ritzel, Fred und Stroh, Wolfgang Martin (Hg.):
Musikpädagogische Konzeptionen und Schulalltag. Versuch einer kritischen Bilanz der 70er
Jahre. Heinrichhofens Verlag Wilhelmshaven 1984 (Festschrift Ulrich Günther zum 60.
Geburtstag).
- Rauhe, Hermann: Musikerziehung durch Jazz. Beiträge zur
Schulmusik Band 12. Wolfenbüttel 1962. - Rauhe, Hermann: Popularität in der Musik.
Schriftenreihe Musik und Gesellschaft Heft 13/14. Braun-Verlag Karlsruhe 1974.
- Lehrerband zum Unterrichtswerk "banjo 5/6".
Klett-Verlag Stuttgart 1978.
- Lugert, Wulf Dieter: Grundriß einer neuen Musikdidaktik.
Metzler-Verlag Stuttgart 1975, S. 10.
- Breckhoff, Werner u.a.: Musik aktuell. Informationen,
Dokumente, Aufgaben. Bärenreiter Kassel 1971, S. 9.
- Meyer-Denkmann: Struktur und Praxis neuer Musik im
Unterricht. Universal Edition Wien 1972.
- Friedemann, Lilly: Einstiege in neue Klangbereiche durch
Gruppenimprovisation. Universal Edition Wien 1973.
- Kohlmann, Walter: Projekte im Musikunterricht. Beltz Verlag
Weinheim 1978.
- Schleuning, Peter (Hg.): Kinderlieder selber machen. Rowohlt
Reinbek 1978 (rororo sachbuch 7115).
- Hoffmann, Freia: Musiklehrbücher in den Schulen der BRD.
Luchterhand Neuwied 1974.
- Abel-Struth: Materialien zur Entwicklung der Musikpädagogik
als Wissenschaft. Schott-Verlag Mainz 1970.
- Schmidt-Brunner, Wolfgang (Hg.): Fachdidaktisches Studium in
der Lehrerausbildung. Oldenbourg-Verlag München 1978. (Insbesondere der Beitrag von
Karl-Heinz Reinfandt.)
- Segler, Helmut (Hg.): Musik und Musikunterricht in der
Gesamtschule. Beltz-Verlag Weinheim 1972.
- Hoffmann, Hilmar: Kultur für alle. Perspektiven und Modelle.
Fischer-Verlag Frankfurt 1979.
- Hentig, Hartmut von: Systemzwang und Selbstbestimmung. Über
die Bedingungen der Gesamtschule in der Industriegesellschaft. Klett-Verlag Stuttgart
1968.
- Zum Ergänzungsunterricht: Stroh, Wolfgang Martin:
Musikkonsum und Kaufverhalten. Arbeitsmaterialien aus dem Bielefelder Oberstufen-Kolleg
(AMBOS), Heft 2. Bielefeld 1978. - Zum Wahlfachunterricht: Ders.: Zur Begründung eines
wissenschaftlichen Grundstudiums Musik am Oberstufen-Kolleg. Schulprojekte der
Universität Bielefeld, Heft 13. Klett-Verlag Stuttgart 1975.
- Siehe oben Frisius (Fußnote 7).
- Rauhe, Hermann: Kulturindustrielle Sozialisierung durch
Musik... In: Rectanus, Hans (Hg.): Neue Ansätze im Musikunterricht. Klett-Verlag
Stuttgart 1972.
- Arbeitsgemeinschaft Curriculum Musik: Sequenzen. Musik
Sekundarstufe I. Klett-Verlag Stuttgart 1972.
- Rauhe, Hermann u.a.: Hören und Verstehen. Theorie und Praxis
handlungsorientierten Musikunterrichts. Kösel-Verlag München 1975.
- Musik und Bildung ....
- Günther, Ulrch und Jakoby, Richard: Musik in der
Lehrerausbildung. In: Musik und Bildung 6/1973.
- 1982 erschienen als "Rockmusik. Eine Herausforderung
für Schüler und Lehrer". Isensee Oldenburg.
- vds-magazin 11/1999, S. 14; vds-magazin 11/2000, S. 7.
(Über: www.vds-niedersachsen.de)
- Stroh, Wolfgang Martin: "Ich verstehe das, was ich
will!" Handlungstheorien angesichts des musikpädagogischen Paradigmenwechsels. In:
Musik und Bildung 3/1999, S. 8-15.
- Bastian, Hans Günther: Musik(erziehung) und ihre Wirkung.
Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen. Schott-Verlag Mainz 2000.
- Bastian, Hans Günther: Der "Mozarteffekt". Warum
uns die Musik Mozarts so viel gibt, ohne dass wir dafür nach Kalifornien reisen
müssen". In: gehirn-jogging mit mozart. Booklet der gleichnamigen CD. Sony Music
2001. (ZIP 5-099750-057124).
- Heft 13 der Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule
Braunschweig. Waisenhaus-Verlag Braunschweig 1966.